Haben wir den Kampf gegen Antisemitismus verloren Jobst Bittner Gründer und Präsident Marsch des Lebens

Haben wir den Kampf gegen Antisemitismus verloren?

Ein Beitrag von Jobst Bittner, Gründer und Präsident Marsch des Lebens.

Ich erinnere mich an die ersten Reaktionen, als ich 2011 mein Buch über die Decke des Schweigens1 veröffentlichte. Ich wies darin auf einen latenten Antisemitismus in der bürgerlichen Mitte Deutschlands hin, der jederzeit massiv wieder aufbrechen könne. Immer, wenn ich auf die Gefahr des Antisemitismus hinwies, erntete ich ein ungläubiges Kopfschütteln. Dasselbe geschah auch in anderen Ländern, ob in Polen, Frankreich, Ungarn oder in den USA. Antisemitismus wurde als ein Randphänomen empfunden, das von manchen vielleicht als problematisch, in der Mehrheit aber ohne gesellschaftliche Relevanz betrachtet wurde. Meine Freunde in den USA gingen sehr schnell zu wichtigeren Programmpunkten über, wenn der Deutsche auf Seminaren und bei Predigten anmahnte, dass ihre Gleichgültigkeit gegenüber Antisemitismus und Judenhass zur Wegbereiterin einer nicht aufzuhaltenden zerstörerischen Lawine werden könnte.

Am 7. Oktober wurde mit dem brutalen Überfall der Hamas die „Büchse der Pandora“ geöffnet. Das größte Massaker an jüdischen Menschen seit dem Holocaust bewegte nur in den ersten Tagen zur Empathie mit den israelischen Opfern. Das von den Nationen zugesprochene Verteidigungsrecht Israels und ihre vielfach versprochene Solidarität hinderten die meisten Vertreter der UNO nicht daran, wieder in eine alte Täter-Opfer Umkehr zurückzufallen und Israel in kürzester Zeit auf die Anklagebank zu setzen. Hunderttausende versammelten sich in den meisten Hauptstädten Europas unter palästinensischer Fahne und skandierten „Free Palestine“, ein Slogan, der schon längst zu einem totalitären Vernichtungsaufruf Israels geworden ist. Vielen ist bewusst, dass unter dem Vorzeichen von Antisemitismus und Israelhass unsere demokratische Ordnung angegriffen wird.
Hier muss sich schnell etwas grundlegend ändern! Wir dürfen nicht länger hinnehmen, dass Terroristen der Hamas als Freiheitskämpfer bezeichnet werden und ihr brutales Massaker gerechtfertigt oder relativiert wird. Hier muss der Gesetzgeber eine eindeutig erkennbare rote Linie ziehen. 

Besorgniserregend ist für mich jedoch noch etwas anderes:
Wie kommt es, dass in der westlichen Welt ein großer Teil der jungen Generation derart antisemitisch geprägt werden konnte, sodass ihnen das Abschlachten von jüdischen Familien, das Köpfen jüdischer Babys und Zerstückeln von Leichen kaum ein Unrechtsbewusstsein hervorlocken konnte? Wie kann es sein, dass an den Eliteuniversitäten der USA zu Hass und Judenmord aufgerufen wird? Nach den judenfeindlichen Übergriffen im nordkaukasischen Dagestan ist Russland für Juden gefährlich geworden. In Deutschland werden Synagogen angegriffen und jüdisches Leben bedroht. Juden leben heute wieder in Angst. Und das beinahe 80 Jahre nach dem Holocaust.

Schon während früherer Zuspitzungen des Nahostkonflikts schwappten Hass und Gewalt nach Deutschland. Doch so massiv und zahlreich wie jetzt waren die israelfeindlichen und antisemitischen Ausbrüche wohl noch nie. Beinahe drei Wochen nach dem Überfall der Hamas, hat die Polizei mehr als 1.800 judenfeindliche Straftaten registriert. Die deutsche Politik ist schockiert und versucht, mit entschiedenen Statements eindeutig Stellung zu beziehen. Der Schutz jüdischen Lebens sei nicht nur Staatsaufgabe, sondern auch „Bürgerpflicht aller“ mahnt der deutsche Staatspräsident. Was aber, fragt sich die Zeitung „Der Spiegel“, wenn sich der Antisemitismus wieder in so vielen Köpfen festgesetzt hat?2 Bei in Deutschland geborenen und bei Einwanderern aus muslimischen Ländern, bei stumpfen Neonazis, Pseudointellektuellen und Linksliberalen sowie Teilen der Klimaschutzszene, die sich plötzlich dem ideologischen Kampf gegen das moderne Israel als „Kolonialisten“ verschrieben hat: unverblümter Israelhass und dumpfer Antisemitismus scheint in allen Schichten der Gesellschaft angekommen zu sein.

Was aber, wenn der Antisemitismus unsere Köpfe nie verlassen hat? Die Autoren der sogenannten „Mitte-Studie“, eine Untersuchung über demokratie- und menschenfeindliche Einstellungen, stellten seit langem wieder eine drastische Zunahme judenfeindlicher Positionen fest.3 Die demokratische Mitte, so die Studie, geht zunehmend auf Distanz. Den Rapper Ben Salomo macht das fassungslos. Er hatte viele Jahre Erfolge in der Rap-Szene gefeiert, war aber als Jude Anfeindungen ausgesetzt. „Ich bin entsetzt“, sagt Ben Salomo, „über das größte Massaker an den Juden seit dem Holocaust“.4 Die fehlenden Worte und Vermeidung klarer Positionierungen, das Schweigen über die Unmenschlichkeit und Bestialität der Hamas, stellt Salomo klar, sei nichts anderes als eine „stille Zustimmung“. Gleichgültigkeit und Schweigen sind seit mehr als 2000 Jahren immer noch die deutlichen Kennzeichen von Antisemitismus und Judenhass. Die Realität zeigt, dass der Antisemitismus nach fast 80 Jahren mehr in uns feststeckt als je zuvor.

Ich frage mich, was da bei uns schiefgelaufen ist. Haben alle Instrumente der Aufarbeitung versagt? Was ist mit unseren Gedenkstätten, Museen und pädagogischen Hilfestellungen? Was ist mit der Literatur, den zahllosen Dokumentationen und Filmen, was ist mit unseren Gedenktagen und was ist mit all unseren Versuchen, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten? Wie viel Antisemitismus und Judenhass müssen in einem Menschen schlummern, um ein Massaker an 1.200 Juden gleichgültig zu relativieren und empathielos darüber hinwegzuschauen?

Der Sozialwissenschaftler und Antisemitismusbeauftragte Samuel Salzborn wäre nicht überrascht. Er wies in seinem Buch „Kollektive Unschuld“ schon vor Jahren darauf hin, dass Antisemitismus durch die Abwehr der Schoa im deutschen Erinnern wieder zur blutigen Realität werden würde.5
Die Erinnerungsverweigerung in unseren Familien führe zur Weigerung der Einsicht, „dass – je nach Alter – der eigene Vater, die eigene Mutter, der eigene Opa, die eigene Oma, der eigene Uropa oder die eigene Uroma schuldig waren.“ Wir erleben heute die dramatischen Folgen dieser Verweigerung.
Salzborn schreibt: Es ist eine „Schuld, von der so gut wie keine deutsche Familie frei ist – die aber nach wie vor von der Mehrheit der Kinder und Enkel in ihrer eigenen Familiengeschichte nicht aufgearbeitet wurde bzw. aktiv verharmlost und geleugnet wird.“6 Wie können wir erwarten, dass die junge Generation zwischen Opfer und Täter im Nahen Osten unterscheiden kann, solange ihre Eltern und Großeltern die aktive oder passive Nazi-Täterschaft ihrer Vorfahren in eine Opferrolle umgelogen haben? Die bekannte Historikerin und Holocaustforscherin Deborah Lipstadt mahnte, dass die alleinige Existenz von Judenhass darauf hindeutet, dass mit der gesamten Gesellschaft etwas nicht stimme.7

Warum tun wir uns so schwer damit, die Chance zu ergreifen, um für kommende Generationen ein endgültiges „Stopp“ für Antisemitismus und Judenhass zu setzen? Antisemitisches Denken ist ein schleichendes Gift, das so lange transgenerational weitergegeben wird, bis es durch Umkehr und Buße zu einem aktiven Umdenken kommt. Dass das möglich ist, zeigen die Geschichten von inzwischen tausenden Teilnehmern der Decke des Schweigens Seminare. Wenn wir den Kampf gegen Antisemitismus und Judenhass in Deutschland und in den Nationen wirklich aufnehmen möchten, müssen wir bei uns selbst und mit unseren Familien anfangen. Ein klares Statement gegen Antisemitismus und Judenhass gehört zur deutschen Familienräson.

 

1Jobst Bittner: Die Decke des Schweigens, Tübingen 2023.

2Der Spiegel, Nr. 44/28.10.2023; Jörg Diehl, Deike Diening:
Schutzlos im Land der Täter, S.9f

3Andreas Zick, Beate Küpper, Nico Mokros; Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23; Hg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung v. Franziska Schröter;
Bonn 2023.

4T-online vom 23.10.2023: Interview mit Ben Salomo;
Wir Juden sind nur das erste Ziel.

5Samuel Salzborn: Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah
im deutschen Erinnern, Leipzig 2020, S. 16.

6Ebd.

7Deborah Lippstadt: Der neue Antisemitismus, München 2018, S.12

 

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