Aufdecken – Entdecken – Das Schweigen brechen

Dauerausstellung in Tübingen: Aufdecken – Entdecken – Das Schweigen brechen

Die 2013 eröffnete und im Dezember 2018 überarbeitete Ausstellung im Kellergewölbe der Buchhandlung Treffpunkt Jesus live, befasst sich mit der Rolle Tübingens im Nationalsozialismus und dessen Auswirkung auf Europa. Weiter erzählt sie von der Versöhnungsarbeit durch den Marsch des Lebens, bei dem Nachfahren der Täter ihr Schweigen über die Rolle der eigenen Familie brechen. Mehr als 10.000 Besucher haben die Ausstellung gesehen und waren von ihrer Botschaft tief berührt.

Seit 2011 kommen Reisegruppen aus Israel auf ihrer Tour durch Deutschland in die Ausstellung. In einer kurzen Führung erfahren sie, dass von der beschaulichen Kleinstadt Tübingen mit seinen hübschen Fachwerkhäusern für etwa 600.000 Juden in Europa der Tod aus ging. Massenmörder wie Martin Sandberger, die an der Universität Tübingen studiert hatten und danach Einsatzgruppenleiter in Osteuropa wurden, lebten in der Bundesrepublik nach 1945 weitgehend unbescholten weiter.
Im Zentrum des Besuchs stehen die Begegnung zwischen Nachfahren der Täter und den israelischen Besuchern, von denen viele Familienangehörige im Holocaust verloren haben. Sehr persönlich erzählen sie die Geschichten ihrer Familien und welche Auswirkungen die Auseinandersetzung damit auf ihr eigenes Leben hatte.

Öffnungszeiten

Mo – Sa 10:00 – 18:00 Uhr
Tel: +49 7071 993 515

Treffpunkt Jesus live – Buchhandlung & Ausstellung
Kronenstr. 9 – Eingang am Marktplatz
72070 Tübingen

Stimmen

Dieses Museum ist ein Muss für jeden, besonders für die Bürger von Tübingen.
Ruth Doctor, Enkelin von Hanna Bernheim, einer jüdischen Bürgerin von Tübingen, die 1939 emigrierte

Sehr eindrucksvolle Ausstellung. Vielen Dank! Möglichst viele Schulklassen sollten kommen.“
Hilde Ehrle, Tübingen

 „Die Ausstellung hat uns stark beeindruckt. Wir möchten großes Lob für die Recherchen zum Ausdruck bringen. Wir danken dafür ganz herzlich – Schalom!“
Felix und Heidi Rottberger, Holocaustüberlebende aus Freiburg

Themen der Ausstellung

Der historische Teil bietet einen groben Überblick über die Geschichte der Tübinger Juden und deren Ansiedlung im Mittelalter und im 19. Jahrhundert, sowie deren Flucht und Vertreibung während der Zeit des Nationalsozialismus. Eine Stadtkarte zeigt, wo die Familien in Tübingen wohnten und informiert über ihr Schicksal. Biographien zeigen exemplarisch, wie sehr die Tübinger Juden in das städtische Leben integriert waren.

Weiter zeigt die Ausstellung, auf welche Weise die nationalsozialistische Ideologie sich in den verschiedenen Sparten der Gesellschaft bemerkbar machte und wie in Tübingen die Reaktionen der Bürger waren. Beispielsweise wird die Rolle der Kirchen in der Stadt betrachtet oder die Inhalte von Schulbüchern in der Grundschule. Zitate von Zeitzeugen machen die Stimmung während dieser Zeit deutlich.

Darüber hinaus wird der Einfluss der Universität beleuchtet. Durch verschiedene Institute, deren Forschung die Ideologie der Nationalsozialisten wissenschaftlich untermauerte, hatte Tübingen einen entscheidenden Einfluss im Deutschen Reich. Zahlreiche Tübinger Studenten traten dem SD (Sicherheitsdienst) bei und bekleideten wichtige Posten im Reichssicherheitshauptamt. 14% des Leitungspersonals der Einsatzgruppen in der Ukraine, Weißrusslands und des Baltikums haben einen Bezug zu Tübingen. Die Besucher werden in die Stimmung Nachkriegsdeutschlands mit hinein genommen, das vom Schweigen über die eigene Verwicklung und Schuld geprägt war. Ein Überblick zeigt, wie lange es dauerte, bis die Erinnerung an den Holocaust in der Gesellschaft zum Konsens wurde. Dennoch blieben die Familienerinnerungen dabei ausgespart und die antisemitischen und rassistischen Vorurteile wurden zwar nicht mehr öffentlich geäußert, schwelten aber unter der Oberfläche weiter. Die Ausstellung soll Besucher ermutigen, dieses Schweigen in der eigenen Familie zu durchbrechen.

Als weiterer Schwerpunkt dokumentiert die Erweiterung die Marsch des Lebens Bewegung. Was 2007 mit einem einmaligen Gedenk- und Versöhnungsmarsch begann, ist inzwischen zu einer weltweiten Bewegung herangewachsen, die Zehntausende Menschen motiviert, gegen Antisemitismus heute auf die Straße zu gehen und an der Seite Israels zu stehen. Märsche des Lebens haben das Leben von vielen Holocaustüberlebenden und ihren Familien für immer verändert. Die Dokumentation über die Märsche und ihre Arbeitsbereiche soll die internationalen Besucher der Ausstellung ermutigen, in ihrer Stadt und Nation selbst aktiv zu werden.

Einige besondere Objekte der Ausstellung

Michails Gebetsriemen aus dem Ghetto

Der Besitzer der Tefillin – Michail Koifman – war als kleiner Junge im Ghetto Berschad in der heutigen Ukraine.  Sein Vater pflegte täglich mit diesem Familienerbstück zu beten, selbst als der Krieg begann. Beim Einmarsch in die Stadt ermordete die deutsche Armee rund 10.000 Ukrainer und Juden. Die übrig gebliebenen Juden mussten in das anschließend eingerichtete Ghetto umziehen, das zum größten Lager für Juden in Transnistrien wurde.

Eines Tages kam ein deutscher Soldat in das Haus der Familie Koifman, schnitt dem Vater die Tefillin ab und warf sie auf die Straße. Nachdem der Soldat weitergegangen war, nahm Michails Vater sie wieder an sich. Es gelang ihm, die Gebetsriemen zu reparieren, jedoch nur mit Plastik, was sie für das Gebet unbrauchbar machte.

2013 besuchte eine Gruppe junger Erwachsener vom Marsch des Lebens Michail und seine Frau Gita in Israel. Einige aus der Gruppe erzählten von der Schuld ihrer Familien. Michail, der selten über seine Erlebnisse im Ghetto sprach, begann daraufhin, ebenfalls seine Geschichte zu erzählen. Nach dieser besonderen Begegnung überreichte er dieses Erinnerungsstück dem Marsch des Lebens.

Chanukkia und Gebetsschal

Der Chanukkaleuchter und der Tallit gehörten den Vorfahren eines israelischen Reiseleiters. Er überreichte sie als Zeichen der Wertschätzung „dem jüdischen Museum in Tübingen“ im Jahr 2010 als Geschenk für die Ausstellung.

Trotz seiner Inhaftierung in Auschwitz gelang es dem Großvater des Reiseleiters, den Tallit zu bewahren. An manchen Stellen des Gebetsschals sind bis heute Blutspuren zu erkennen.
Die Chanukkia war ein langjähriges Familienerbstück der Urgroßmutter des Reiseleiters und stammt aus dem Jahr 1811. Die Urgroßmutter überlebte das Konzentrationslager Treblinka.