Zur Kritik am Marsch des Lebens

Neben vielen ermutigenden Rückmeldungen wird gelegentlich auch Kritik an den Werten, Inhalten und Motivation der Marsch des Lebens Bewegung geübt. Diese Kritik geht meistens auf eine Stellungnahme der bayerischen evangelischen Landeskirche aus dem Jahr 2015 zurück. In dem folgenden Artikel hat sich Marsch des Lebens Repräsentant Stefan Haas mit dieser Kritik ausführlich auseinandergesetzt.

Für ein angemessenes Gedenken zum 70. Jahrestag der Todesmärsche und der Befreiung der Konzentrationslager – Eine kritische Einschätzung zur Initiative „Marsch des Lebens“
von Kirchenrat Dr. Matthias Pöhlmann, Kirchenrat Dr. Axel Töllner und Pfarrer Dr. Björn Mensing vom 27. Januar 2015.

Antwort auf die Stellungnahme:

Der Stellungnahme „Für ein angemessenes Gedenken“ liegen gravierende Fehleinschätzungen sowohl der Intention als auch der Hauptbotschaft des Buches „Die Decke des Schweigens“ von Jobst Bittner zugrunde, die leider bei den Autoren zu deutlichen Verzerrungen in der Wahrnehmung und Beurteilung der Marsch des Lebens-Bewegung geführt haben.

Die Decke des Schweigens

Eine Fehleinschätzung der Intention liegt in der Stellungnahme insofern vor, als sie das Buch als eine theologische Grundlegung der Marsch des Lebens-Bewegung behandelt. Das will es aber nicht sein. Es heißt nicht umsonst „Die Decke des Schweigens“ – und eben nicht „Die Märsche des Lebens“. Von den insgesamt 311 Seiten des Buches behandeln nur 38 Seiten die Anfänge der Marsch des Lebens-Bewegung. Und auch diese Seiten sind aus der gesamten Perspektive und Intention des Buches heraus geschrieben: Es ist ein Aufruf an Christen, sich mit dem Thema der „Decke des Schweigens“ zu beschäftigen. Daher enthält es z.B. viele biblische Fragestellungen, was für die weitgehend säkular gehaltenen Märsche des Lebens untypisch ist. Löst man diese 38 Seiten über die Märsche des Lebens aus dem Zusammenhang, den Fragestellungen und der Intention des Buches und behandelt sie als umfassende Darstellung der Marsch des Lebens-Bewegung – dann ergibt sich zwangsläufig ein falsches Bild, was in dieser Stellungnahme schließlich sogar zur Unterstellung falscher Motivationen führt.

Des Weiteren liegt eine Fehleinschätzung der Hauptbotschaft des Buches zugrunde – Zitat: „Demnach befinden sich die Menschen in Deutschland unter einer „Decke des Schweigens“. Sie äußere sich im Schweigen in den Familien gegenüber den Opfern des Holocaust (…)“ Die Hauptbotschaft des Buches zielt aber zunächst in eine ganz andere Richtung: Es geht zuerst um das Schweigen über die eigene Schuld auf der persönlichen Ebene innerhalb der Familien – von einer Generation zur nächsten Generation. Das wird auch im Titelbild dargestellt. Aufgrund ihres Missverständnisses bemühen sich die Autoren der Stellungnahme daher, unter dem Stichwort „Einschätzung“ zahlreiche ehrenwerte Initiativen zu Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit aufzulisten, um damit deutlich zu machen, dass das „Konstrukt“ einer „Decke des Schweigens“ bei so viel Initiativen ja unzutreffend sei. Wir sind dankbar für zahllose Initiativen im ganzen Land, die sich seit Jahrzehnten um Recherche, Dokumentation und historische Aufarbeitung bemühen. Dennoch geht die Kritik von einem Missverständnis aus und daher an der Botschaft des Buches vorbei. Die Hauptperspektive beim Buch „Die Decke des Schweigens“ liegt auf den persönlichen Familienbeziehungen. Es geht im Kern zunächst um das Schweigen der Generationen zueinander. Hierbei kann es durchaus eine Diskrepanz geben: Während in zahllosen Dokumentationen in Medien, in Veröffentlichungen, Ausstellungen, Vorträgen, an Gedenkorten und in Gedenkveranstaltungen unterschiedlichster Initiativen im ganzen Land sehr viel ehrenwerte Aufarbeitung stattfindet, herrscht manchmal gleichzeitig parallel dazu auf der persönlichen Ebene in den Familien immer noch die Decke des Schweigens.

Geistliche Kampfführung?

Des Weiteren wird der angeblich propagierte „geistliche Kampf gegen Territorialmächte“ und die „dämonologische Geschichtsdeutung“ zu einem Hauptthema der Märsche des Lebens hochstilisiert und damit zu einem Grund, nun dringend vor jeder Zusammenarbeit zu warnen, „da man sich sonst zum Unterstützer einer Initiative macht, deren eigentliche Motivation kritisch hinterfragt werden muss.“  Was steht tatsächlich im Buch „Die Decke des Schweigens“? Zunächst muss man die Relationen wahren: Von den 311 Seiten des Buches geht es in ganzen 13 Seiten um dieses Thema (S. 220 ff.). Wer so etwas zum Hauptthema hochstilisiert, der verzerrt bewusst. Die Intention des Buches war es (wie gesagt), Christen dazu aufzurufen, sich mit der Decke des Schweigens zu beschäftigen. Selbst aus der charismatischen Bewegung kommend und diese als erstes adressierend wandte sich Jobst Bittner an die zunächst vor allem aus dieser kirchlichen Szene zu erwartenden Leser – und machte etwas zum Thema, das damals in dieser Szene ein Thema war. Allerdings: Mit einer ganz neuen Ausrichtung! Und die wurde von den Autoren des Statements überhaupt nicht wahrgenommen. Was ist nämlich die Botschaft des Buches an dieser Stelle? Finsternis zerbricht, wo Schweigen gebrochen und Wahrheit ausgesprochen wird. Insofern haben die Autoren eigentlich nur das Stichwort aufgegriffen und als Feindbild adressiert – ohne die eigentliche Botschaft wahrzunehmen. Es geht überhaupt nicht um das klassische Konzept sogenannter „geistlicher Kampfführung“ in Jobst Bittners Buch. Und ebenso wenig spielt das tatsächlich in der Durchführung von Märschen des Lebens eine Rolle.

Christlicher Zionismus?

Unter der Überschrift „Christlicher Zionismus?“ (die immerhin noch mit einem Fragezeichen versehen ist!), arbeiten die Autoren der Stellungnahme einen ganzen Abschnitt lang ohne jeden Beleg. Sie gehen rein assoziativ vor: „Die Unterstützung, die TOS von den christlich-zionistischen „Christen an der Seite Israels“ erhält, wirft ein weiteres, bezeichnendes Licht auf diese Bewegung. Christliche Zionisten …“ Der Gedankengang ist folgender:

  • Die TOS (um die es hier eigentlich gar nicht geht) erhält Unterstützung von „Christen an der Seite Israels“.
  • „Christen an der Seite Israels“ sind christlich-zionistisch.
  • Christliche Zionisten erkennen Juden lediglich als verhinderte Christen an und unterstützen nur vordergründig den Staat Israel. Eigentlich geht es ihnen nur um die Wiederkunft Christi.

Die Vorgehensweise der Autoren ist eher subtil, sehr geschickt und erreicht vermutlich beim unkritischen Leser ihr Ziel: Der Begriff „Zionismus“ ist für viele alleine schon ein rotes Tuch, weckt Extremismus-Ängste und ist von zahlreichen Vorurteilen belegt. Mit diesen Ängsten und Vorurteilen spielen die Autoren, denn substantiell belegen sie sachlich rein gar nichts in diesem Abschnitt. Gruppierungen und säkular-philosophische oder religiöse Denkweisen, auf die der Begriff „Zionismus“ zutrifft, sind ein sehr weites Feld, für die es auch die unterschiedlichsten Hintergründe und Motivationen gibt. Wie die Autoren dazu kommen, dieses weite Feld (selbst des „christlichen Zionismus“) so unsachlich und lapidar mit ein paar diffamierenden Bemerkungen ihrerseits zu kennzeichnen bleibt unklar. Sie verfehlen aber nicht ihr gewolltes Ziel, wie der Artikel „Felix Klein. Der Antisemitismusbeauftragte unter Judenfeinden?“ in der ZEIT vom 5.06.2018 belegt, der seine Argumentation aus dieser Stellungnahme bezieht, deren rein assoziative, unsachliche Vorgehensweise übernimmt und noch weiter fortführt – und den Marsch des Lebens deswegen als „Judenfeinde“ bezeichnet.

Ist der Marsch des Lebens „zionistisch“? Der „Marsch des Lebens e.V.“ ist ein nicht-religiöser Verein. Es gibt keine „Theologie“ der Marsch des Lebens-Bewegung und es kann sie auch gar nicht geben, da Unterstützer und Teilnehmer von Märschen des Lebens unterschiedlichste weltanschauliche, religiöse oder konfessionelle Hintergründe haben – und genau das auch so gewollt ist. Der Marsch des Lebens hat keine „Hidden Agenda“, sondern ihm geht es (wie immer wieder ausgedrückt) um drei Ziele:

  • Erinnern – Aufarbeitung der Vergangenheit, Holocaustüberlebenden eine Stimme geben.
  • Versöhnen – Heilung und Wiederherstellung zwischen den Nachkommen der Täter- und Opfergeneration.
  • Ein Zeichen setzen – für Israel und gegen den modernen Antisemitismus.

Das Verhältnis zu Israel füllt jeder Unterstützer und Teilnehmer eines Marsch des Lebens selbst auf seine persönliche Art und Weise. Was alle eint, ist das Anliegen, für das Existenzrecht Israels und gegen modernen Antisemitismus einzutreten – der sich ja häufig gerade im israelbezogenen Antisemitismus zeigt. Darüber hinaus ist in den Statuten des Marsch des Lebens e.V., die alle Organisatoren eines Marsches unterschreiben müssen, übrigens auch deutlich festgelegt, dass eine Marsch des Lebens-Veranstaltung keine Plattform für Evangelisation sein darf.

Übrigens hatte die Marsch des Lebens-Bewegung seit dem Jahr 2007 bei Märschen und Gedenkveranstaltungen in 350 Städten und 20 Nationen bereits unzählige Unterstützer aus den unterschiedlichsten Hintergründen. Natürlich arbeiten wir mit allen zusammen, die die drei Ziele des Marsch des Lebens unterstützen, auch mit zionistischen Bewegungen. Dass die Autoren der Stellungnahme die „Christen an der Seite Israels“ als Beispiel herausgegriffen haben und sie zufällig mit dem Prädikat „christliche Zionisten“ belegen konnten, kam ihnen daher in ihrer Intention vermutlich einfach nur gelegen.

Die Motivation?

Die insgesamt verzerrte Wahrnehmung der Autoren der Stellungnahme führte dann in der Summe schließlich zu einer weitreichenden Unterstellung, die sich z.B. in folgender Formulierung ausdrückt:

„(…) ist (…) von einem Engagement beim „Marsch des Lebens“ dringend abzuraten, da man sich sonst zum Unterstützer einer Initiative macht, deren eigentliche Motivation kritisch hinterfragt werden muss.“

Aufgrund dieser Darstellung fand sich in der Folge manche Unterstellung in weiteren öffentlichen Statements und Zeitungsartikeln, die z.B. davon sprachen, dass es bei Märschen des Lebens in Wirklichkeit mehr um die Befindlichkeiten der Teilnehmer oder um die sogenannte geistliche Kampfführung gehe, als um echte Versöhnung und Begegnung mit den Opfern der Shoa. Einer solchen Darstellung bzw. Unterstellung widersprechen wir entschlossen und in jeder Weise. Solche Darstellungen sind auf den Missdeutungen und Fehleinschätzungen dieser Stellungnahme über das Buch „Die Decke des Schweigens“ aufgebaut und tragen diese ohne sie zu hinterfragen weiter. Wer sich wirklich mit der Marsch des Lebens-Bewegung beschäftigen will, der findet genug Material auf der Webseite www.marschdeslebens.org, um sich ausführlich zu informieren. Hier wird die Marsch des Lebens-Bewegung umfassend dargestellt – und nicht unter einem bestimmten Blickwinkel, mit einer bestimmten Botschaft und mit einer bestimmten Zielgruppe wie im Buch „Die Decke des Schweigens“.

Von einer Gebetsbewegung zur internationalen Marsch des Lebens-Bewegung

Es ist darüber hinaus wichtig wahrzunehmen, dass sich die Marsch des Lebens-Bewegung über die Jahre gewandelt hat. In den Anfängen war es eine Gebetsbewegung. Das kann man übrigens z.B. noch im Buch „Die Decke des Schweigens“ deutlich am Hinweis auf einen „Gebetsleitfaden“ auf Seite 311 erkennen. In den ersten Jahren waren auf Märschen des Lebens hauptsächlich Christen unterschiedlicher Konfessionen gemeinsam unterwegs. Oftmals kam es dann bei Gedenkveranstaltungen zu christlich-jüdischen Begegnungen. Nach den ersten Jahren nahmen weltweit immer mehr Menschen aus unterschiedlichsten weltanschaulichen oder religiösen Hintergründen an Märschen des Lebens teil. Gleichzeitig nahmen Kontakte zu jüdischen Gemeinschaften deutlich zu. Märsche des Lebens wurden immer öfter auch zu offiziellen Gedenkfeiern jüdischer Gemeinschaften. Damit traten die Aspekte von Versöhnung und Begegnung, die von Anfang an entscheidend waren, immer mehr in den Vordergrund – und es rückte immer mehr in den Fokus, gemeinsam seine Stimme gegen Antisemitismus zu erheben bzw. ein sichtbares Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen. Das Buch „Die Decke des Schweigens“, das ohnehin nie eine Darstellung der Märsche des Lebens sein wollte, zeugt in den 38 Seiten über sie noch stark von den ersten Jahren. Der erste Marsch des Lebens fand im April 2007 statt. Das Buch „Die Decke des Schweigens“ erschien im Sommer 2011 – gerade einmal vier Jahre später. Hätten die Autoren vor der Veröffentlichung ihrer Stellungnahme (immerhin noch einmal fast weitere vier Jahre später) das Gespräch mit uns gesucht, dann hätten ihre Fehleinschätzungen und Missverständnisse und die daraus abgeleiteten Verzerrungen und Unterstellungen aufgeklärt werden können und wir hätten sie gerne auch über die weitere Entwicklung der Märsche des Lebens informiert.

Mittlerweile ist der Marsch des Lebens zu einer großen, internationalen Bewegung geworden. Der dafür gegründete Verein „Marsch des Lebens e.V.“ hat den Satzungszweck der Völkerverständigung. Wäre die Motivation hinter den Märschen tatsächlich so fragwürdig, wie in der Stellungnahme „Für ein angemessenes Gedenken“ dargestellt (und leider öfters von dort aus unkritisch weitergetragen), dann hätten jüdische Gemeinschaften weltweit sich längst von der Marsch des Lebens-Bewegung zurückgezogen. Niemand ist so sensibel, was das Gedenken an die Shoa angeht, wie Juden selbst. Insofern ist die weltweite Anerkennung, die die Marsch des Lebens-Bewegung gerade in vielen jüdischen Gemeinschaften erlebt, der beste Gegenbeweis gegen die Unterstellungen der Autoren dieser Stellungnahme.

Fazit

Wir empfehlen daher einen kritisch-hinterfragenden Umgang mit dieser Stellungnahme „Für ein angemessenes Gedenken“, die sich leider aus konfessionell-verengter Sichtweise heraus in Fehleinschätzungen und Missverständnissen, Verzerrungen, Arbeiten mit Klischees und Vorurteilen und in Unterstellungen verrannt hat – und deren Autoren es übrigens auch weder vor noch nach der Veröffentlichung wichtig fanden, das direkte Gespräch mit uns darüber zu suchen.

Märsche des Lebens sind durchaus ein sehr angemessenes Gedenken. Hier sollte man eher auf die Stimmen der vielen jüdischen Freunde und Unterstützer der Marsch des Lebens-Bewegung weltweit hören, die solche Märsche tatsächlich selbst miterlebt haben. Sie sind das beste und eindeutigste Zeugnis.

 

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