Leipzig 2012

Gedenkmarsch anlässlich des 70. Jahrestags der ersten und größten Deportation aus Leipzig mit Holcaustüberlebenden aus Leipzig und Vertrertern von Stadt, verschiedenen Kirchen und der israelitischen Religionsgemeinde.

Am 21.01.1942, einen Tag nach der Wannseekonferenz, wurden 559 Leipziger Juden nach Riga deportiert. Nur 29 von ihnen haben den Holocaust überlebt.

Genau siebzig Jahre danach haben die Nachkommen der Täter gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde vor Ort der Opfer des Holocaust gedacht. Auf Initiative der TOS Gemeinde wurde in Leipzig der Marsch des Lebens durchgeführt. Vertreter verschiedener christlicher Denominationen, Historiker, Zeitzeugen, Holocaustüberlebende und über 200 Bürger der Stadt Leipzig haben ein deutliches Zeichen gegen das Schweigen, das Vergessen und modernen Antisemitismus gesetzt.

Mit Rücksicht auf den jüdischen Schabbat fand die offizielle Gedenkveranstaltung erst am Samstagabend und der Marsch des Lebens am Sonntag, dem 22.01.2012, statt. Das Besondere und für die Stadt Leipzig bisher Einzigartige an den Veranstaltungen war die enge Zusammenarbeit von christlichen, jüdischen und säkularen Gruppen und die sehr persönliche Art, sich der gemeinsamen Vergangenheit zu stellen.

Am Samstagabend hatte zunächst Stefan Haas als Vertreter der Marsch des Lebens Bewegung und Pastor der TOS Gemeinde Leipzig die Geschichte und das Anliegen der Bewegung vorgestellt. Nachdem ein Grußwort des Rabbiners der Israelitischen Religionsgemeinde verlesen worden war und Ellen Bertram aus dem Kuratorium der Ephraim-Carlebach-Stiftung eine historische Einführung ins Thema gegeben hatte, wandte sich Rolf Kralovitz, ein Augenzeuge der Deportationen, in einer bewegenden Videobotschaft an die Leipziger. Als heute fast erblindeter 86 Jähriger erinnert er sich an viele Einzelheiten des Tages, an dem den Leipziger Juden unvermittelt eine Liste ausgehändigt wurde, aus der hervorging, wer sich bereits am nächsten Morgen zum Abtransport ins Ungewisse bereithalten sollte: “Dieser Tag, dieser Sonntag, war in den Judenhäusern [alle Juden hatten schon ab 1939 in spezielle “Judenhäuser” umziehen müssen Anm.d.Red.], ob auf der Liste oder nicht, Weltuntergangsstimmung, weil man natürlich nicht wusste, wo man hinkam. – Man hat nicht gewusst, dass man nach Auschwitz kommt und da an der Rampe ausgesucht wird und gleich am selben Tag in die Gaskammer kommt. So viel Phantasie hat man natürlich nicht besessen. Aber man hat Angst gehabt, in irgendein Arbeitslager zu kommen, in irgendein Lager, wo man also nichts zu Essen bekommt, wo man schwer arbeiten musste usw. Aber dass man umgebracht wurde, das hat man natürlich nicht gewusst.”

Auch Eva Maria Hillmann aus der Israelitischen Religionsgemeinde Leipzig erzählte als Tochter von damals Deportierten ihre Geschichte. Sie war bei Freunden der Familie zurückgeblieben, als ihre Mutter und ihre Schwester abgeholt worden waren. Beide haben überlebt, aber ihre Schwester hat sich 1971 selbst das Leben genommen, was Eva Maria Hillmann als “späten Sieg Hitlers“ bezeichnete.

Nachdem die Namen der Deportierten verlesen worden waren, rief Friedrich Magirius, erster Staatspräsident der Stadt, Superintendent i.R. und Vorsitzender der jüdisch-christlichen Arbeitsgemeinschaft Leipzig in seinem Beitrag zu Wachsamkeit in Bezug auf Antisemitismus auf. In besonderer Erinnerung wird allen Anwesenden bleiben, dass ein weiterer Holocaustüberlebender, der zwar sein Kommen zugesagt hatte, aber sich unter keinen Umständen in der Lage fühlte, sich öffentlich zu diesem Thema zu äußern, spontan ans Mikrofon kam und ausführlich seine Geschichte teilte, wie er es noch nie zuvor getan hatte.

Am Sonntag versammelten sich die Teilnehmer des Marsch des Lebens auf dem historischen Platz in der Ernst-Pinkert-Straße, an dem sich die Juden vor siebzig Jahren zum Abtransport hatten sammeln müssen. Heute ist dort der Parkplatz des Konsum-Marktes. Steffen Held, der als Historiker viel zur Aufarbeitung der Geschichte der Stadt beigetragen hat, und Vertreter verschiedener Gemeinden sprachen bei der Auftaktveranstaltung vor den frierenden Teilnehmern. Am Tag der Deportationen im Januar 1942 war es sehr viel kälter gewesen; damals wurden 127 Männer, 346 Frauen und 86 Kinder am Engelsdorfer Güterbahnhof bei minus 20°C wie Ware in unbeheizte Waggons verfrachtet.

Eben dorthin führte der Gedenkmarsch ca. 7 km durch die Stadt. Die Straßen waren zu diesem Anlass gesperrt worden. Für diejenigen, die den Weg nicht zu Fuß bewältigen konnten, hatten die Leipziger Verkehrsbetriebe einen Bus gestellt, der dem Marschzug im Schritttempo folgte. An einigen offen antisemitischen Zwischenrufen mancher Anwohner bis hin zu einer Heil-Hitler-Bekundung war zu erkennen, wie bitter notwendig Aufarbeitung, Aufklärung und Stellungnahmen gegen Antisemitismus auch und gerade heute noch sind.

Wie es für den Marsch des Lebens wesentlich ist, haben auch in Leipzig die Nachkommen der Tätergeneration, die sich mit der konkreten Schuld ihrer Eltern und Großeltern auseinandergesetzt haben, sehr persönlich Verantwortung genommen und um Vergebung gebeten. Dabei ging es nicht darum, wie manche den Vorwurf erheben, das “Andenken der Toten zu beschmutzen”, sondern die Decke des Schweigens zu zerbrechen und Versöhnung und Heilung bei Tätern und Opfern zu ermöglichen. Denn genauso greifbar, wie Rolf Kralovitz vom “Tag der Listen” erzählt hat, konnte eine Teilnehmerin aus Leipzig aus der Vergangenheit ihrer Familie berichten: “Meine Großmutter hat jüdische Geburtsurkunden aussortiert, sie von den deutschen getrennt. Sie hat somit die Juden verraten. Ich bitte um Vergebung.”

Der Marsch des Lebens, das Gedenken und die Bitte um Vergebung sind in und über Leipzig hinaus von den Medien weitergetragen worden und sollen als Vorlage für weitere Aufarbeitung und Veranstaltungen zu einer echten Versöhnung beitragen. Wenn sich in diesem und den kommenden Jahren in vielen deutschen Städten die Tage der Deportationen zum siebzigsten Mal jähren, sollen auch weitere Märsche des Lebens stattfinden.

Berichte in Medien:

Artikel in der Leipziger Volkszeitung vom 23.1.2012, S.18

Bericht des MDR in der Sendung MDR Aktuell vom 22.1.2012, 19:30 h (demnächst verfügbar)

Bericht des MDR in der Sendung Sachsenspiegel vom 22.1.2012, 21:45 h (demnächst verfügbar)

Manuskripte:

Pressemitteilung zum Marsch des Lebens Leipzig

Manuskripte einiger Beiträge bei der Gedenkveranstaltung am 21.1.2012 in der Leipziger Alten Handelsbörse:

Einleitung zum Marsch des Lebens von Pastor Stefan Haas (TOS Gemeinde Leipzig)

Grußwort von Rabbiner Zsolt Balla (Israelitische Kultusgemeinde Leipzig)

Grußwort von Rabbiner Menachem Barkahan (Gemeinde “Shamir” in Riga, Lettland)

Über die Decke des Schweigens von Pastor Stefan Haas (TOS Gemeinde Leipzig)

Videos:

Augenzeugenbericht der Deportation des Überlebenden Rolf Kralovitz

Mitschnitt der kompletten Gedenkveranstaltung in der Alten Handelsbörse in Leipzig.

Fotos:

Bilderserie auf Facebook

 

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