Wussten Sie, dass fast alle der großen Autoren des klassischen Broadway-Musicals jüdisch waren? Deshalb war es nur angemessen, im Rahmen der jüdisch-christlichen Kultur- und Begegnungswoche „Chanukka Tage“ dieser Tatsache einen besonderen Gala Abend mit der israelischen Mezzosopranistin Shai Terry und Künstlern aus der TOS Gemeinde Tübingen zu widmen. Das Programm wurde von Marsch des Lebens-Mitarbeiterin Michaela Buckel entwickelt und moderiert, im Interview erklärt sie die Hintergründe.
Ist es wirklich so, dass viele der großen Musicals am Broadway von jüdischen Autoren geschrieben wurden?
Es ist tatsächlich auffällig, dass sowohl die Texte als auch die Musik der bekanntesten Broadway Musicals von jüdischen Musikern stammen, z.B. My Fair Lady, West Side Story, Sound of Music, Les Miserablés, Miss Saigon… die Liste ließe sich sehr lang fortsetzen. Wenn wir jetzt noch Disney Musicals dazu nehmen, die inzwischen auch als eigenständige Produktionen am Broadway laufen, dann kämen Die kleine Meerjungfrau, Die Schöne und das Biest, Der Glöckner von Notre Dame und Sister Act noch dazu.
Wie bist Du dieser Tatsache auf die Spur gekommen?
Ich glaube, es war bei Les Miserablés, das vom Juniaufstand 1832 in Paris handelt, dass ich zum ersten Mal über die Texte gestolpert bin. Natürlich ist die Geschichte dramatisch, aber ich hatte das Gefühl: Da geht es um mehr! Das muss jemand geschrieben haben, der Verlust kennt, den man schwer ausdrücken kann. Also wollte ich den Hintergrund des Komponisten wissen. Und tatsächlich stammten beide Komponisten aus jüdischen Familien und die Hälfte von Claude-Michel Schönbergs Familie in Ungarn wurde in Auschwitz ermordet. Dann sind mir immer mehr Dinge aufgefallen und ich habe angefangen die Geschichten der Musicalkomponisten und Lyriker zu recherchieren. Daraus entstand dann die Idee, diese Biografien zusammen mit den Musicals zu präsentieren.
Kannst Du uns ein Beispiel für so eine klassische Biografie der Musical Autoren geben?
Irving Berlin wurde als Israel Beilin am 11. Mai 1888 in Tjumen, Sibirien geboren. Seine Familie wohnte jedoch im Schtetl Tolochin im heutigen Weißrussland. Er war eines von acht Kindern von Moses und Lena Lipkin Beilin. Der Vater war Kantor in einer Synagoge, bis es in dem Schtetl zu einem Pogrom kam. Irving erinnerte sich nur noch daran, dass er sich in einer Box verstecken musste und wie er zusah als ihr Haus bis auf die Grundmauern niederbrannte. Die Familie wanderte daraufhin nach Amerika aus. Bei ihrer Ankunft wurde Israel zusammen mit seinem Bruder und seinen fünf Schwestern in einen Pferch gesteckt, bis die Einwanderungsbehörde sie für die Einreise in die Stadt zuließ. Sein Vater, der in New York keine vergleichbare Arbeit als Kantor finden konnte, nahm einen Job in einem koscheren Fleischmarkt an und gab nebenbei Hebräisch Unterricht, um seine Familie zu unterstützen.
Mit nur wenigen Jahren Schulbildung begann der achtjährige Irving nun zum Lebensunterhalt seiner Familie beizutragen. Weil die Familie so arm war, lebte er als Straßenjunge in der Lower East Side und eignete sich die Sprache und Kultur des Ghettolebens an. Er wurde Zeitungsjunge und trug das Evening Journal aus. Der junge Berlin sang einige der Lieder, die er beim Zeitungsverkauf aus den Clubs hörte und die Leute warfen ihm ein paar Münzen zu. Die Musik wurde seine beste Einnahmequelle. Dafür brachte sich Berlin selbst ein wenig Klavierspielen bei. Da er nach Gehör spielte, nahm er der Einfachheit halber nur die schwarzen Tasten; er spielte fast ausschließlich in der Tonart Fis.
Der ehemalige Straßenjunge war auf dem besten Wege, ein bekannter Komponist zu werden, und dies, obwohl er weder Noten lesen noch richtig Klavier spielen konnte. Er komponierte seine Melodien, andere schrieben die Noten für ihn auf. In seinem langen Leben von 101 Jahren schrieb er über 1000 Lieder, von denen die meisten zu den Jazzstandards gehören und die amerikanische Musik nachhaltig geprägt haben. Neben siebzehn kompletten Partituren für Broadway-Musicals steuerte er Material zu sechs weiteren bei und komponierte auch für Hollywood. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg wurde sein Lied „God Bless America“ zur inoffiziellen Hymne der USA.
Ein weiterer Klassiker ist sein Song „White Christmas“, das viele Millionen Mal verkauft wurde. Seinen größten Erfolg feierte Berlin 1946 mit dem Musical „Annie Get Your Gun“ über die US-amerikanische Kunstschützin Annie Oakley.
Die meisten Musicals behandeln ja keine spezifisch jüdischen Themen. Warum hat es so lange gedauert, bis ein offensichtlich jüdisches Musical wie Anatevka möglich war?
Obwohl viele der Autoren im Jiddischen Theater in New York zuhause waren – vor allem die, deren Familien noch recht neu in den USA waren – wollten sie natürlich ein breites Publikum ansprechen. Das ist die Voraussetzung für Erfolg: Das spielen, was viele abholt. Außerdem wollten sie nicht in erster Linie als europäische Juden Musik machen. Sie betrachteten sich als Amerikaner und wollten als solche wahrgenommen werden. Fast alle haben ihre Namen amerikanisiert. Trotzdem bildeten sie ein Netzwerk aus jüdischen Produzenten, Textern, Komponisten und Choreografen. Ich denke sie hatten doch mehr gemeinsam als ihnen bewusst war und Vertrauen spielte da eine wichtige Rolle.
Dazu kommt, dass viele Antisemitismus erlebt haben – auch in den USA. Daher verarbeiteten sie die Themen von Ausgrenzung, Ungerechtigkeit und die Frage der Identität anhand anderer Randgruppen z.B. Schwarze oder Einwanderer aus Lateinamerika. Anatevka erzählt die Geschichte eines osteuropäischen Schtetls, in dem ein Pogrom verübt wird, das die Bewohnter zur Auswanderung treibt. Das ist die Familiengeschichte mancher der Musiker – da braucht es schon eine Portion Mut, das ins Rampenlicht zu stellen! Aber Anatevka wurde ein weltweiter Riesenerfolg. Bis 1979 war es mit über 3000 Aufführungen das am längsten laufende Musical am Broadway und es öffnete die Türen für weitere jüdische Geschichten, die nicht nur eine Minderheit ansprachen, sondern jede Kultur und Generation!
Vielen Dank für das Interview!