Der 22. Juni 1941 markierte einen Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg: Es war die Entfesselung von Hass und Gewalt mit dem Ziel der totalen Vernichtung ganzer Völker. Getrieben von Antisemitismus und Rassenwahn gegen die slawischen Völker plünderte, brandschatzte und mordete die Wehrmacht auf barbarische Weise und hinterließ in der Ukraine, in Belarus, in den baltischen Staaten, Moldawien und in Russland verbrannte Erde. Etwa 27 Millionen Tote, davon 14 Millionen Zivilisten, hatte die ehemalige Sowjetunion zu beklagen. Doch diese Fakten, obwohl historisch bekannt und belegt, finden bisher nur wenig Widerhall in der deutschen Erinnerungskultur.
In einem Gedenkgottesdienst in Tübingen am Abend des 22. Juni kamen Deutsche, Ukrainer, Weißrussen und Russen zusammen, um über die gemeinsame Geschichte zu sprechen. Denn auch hier stecken hinter den unfassbaren Zahlen einzelne Familien, die bis heute von den Schatten der Vergangenheit beeinflusst sind. In Weißrussland betrug der Anteil der jüdischen Bevölkerung in manchen Städten mehr als 50%, die systematisch durch Massenerschießungen ermordet wurden. Darüber hinaus verfolgte der NS-Staat eine Strategie des Aushungerns der Zivilbevölkerung in Weißrussland und der Ukraine, indem Nahrungsmittel für die Wehrmacht beschlagnahmt wurden. Beinahe jede Familie war davon betroffen, genauso wie es in jeder Familie Angehörige gibt, die als Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter ins deutsche Reich verschleppt wurden und nie zurückkehrten. Bei den persönlichen Erzählungen wurde schnell klar, dass Familiengeschichten vielschichtig sind. Opfer waren teilweise gegenüber der jüdischen Bevölkerung auch Täter und die deutsche Bevölkerung auf dem Gebiet der Ukraine wurde beim Einmarsch der deutschen Armee nach Zentralasien deportiert und interniert.
Die Teilnehmer des Gedenkgottesdienst waren tief erschüttert über die Zerstörung und das Leid, das Nazi-Deutschland in die Länder der ehemaligen Sowjetunion brachte, zumal beinahe jede deutsche Familie Anteil daran hatte. Nachkommen von Wehrmachtsangehörigen und Lagerpersonal in Kriegsgefangenlagern sprachen offen über die Beteiligung ihrer Familie an den Verbrechen und baten die Nachfahren der Opfer um Vergebung. Es war ein Schritt der Versöhnung, der notwendig ist, damit die Herzen geheilt werden können.
„Erinnerung an Vergangenes heilt nicht die Wunden, die in der Gegenwart geschlagen werden – aber die Gegenwart tilgt auch niemals die Vergangenheit. So oder so lebt Vergangenes in uns fort: entweder als verdrängte Geschichte, oder als eine Geschichte, die wir annehmen. Zu lange haben wir Deutsche das mit Blick auf die Verbrechen im Osten unseres Kontinents nicht getan. Es ist an der Zeit, das nachzuholen.“, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sehr treffend in seiner Rede zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion. Dieses Anliegen teilt der Marsch des Lebens, der für Erinnerung und Versöhnung steht – auch zwischen den Völkern und Nationen.