Erinnern heißt Handeln! Eine Rede von Jobst Bittner

Rede von Jobst Bittner, Gründer und Präsident der Marsch-des-Lebens-Bewegung anlässlich der Gedenkveranstaltung “80 Jahre und kein Schlussstrich” am 7.5.2025 in Berlin im Haus der Bundespressekonferenz

Mein Name ist Jobst Bittner. Ich möchte mich kurz vorstellen: Ich bin Pastor, Gründer und Präsident der Marsch des Lebens-Bewegung. Die Bewegung mobilisiert jedes Jahr in 20 Nationen Zehntausende Menschen, die gegen Antisemitismus und für Israel auf die Straße gehen.

Mein Vater war Offizier der Wehrmacht, kämpfte im Zweiten Weltkrieg in Afrika unter Rommel, kam in amerikanische Kriegsgefangenschaft nach Tennessee und kehrte 1947 nach Hause zurück.

Ich bin ein Kind der späten 50er Jahre. Meine Generation bezeichnet man als die Nachkriegsgeneration. Unsere Väter trugen Hut, bauten ihre neue Existenz auf und sprachen vom Krieg, als wäre er eine Art Abenteuer gewesen. Ich erinnere mich an viele Wohnzimmergespräche in unserer Familie in den 60er Jahren. Der Tod von sechs Millionen Juden, der Überfall auf Polen und das Leid, das millionenfach über Familien gebracht wurde, kamen in unseren Gesprächen nicht vor.

Ich selbst komme aus Tübingen, einer Stadt in Süddeutschland, an deren Universität NS-Kriegsverbrecher, wie etwa der SS-Einsatzgruppenleiter Walter Stahlecker, ausgebildet wurden – Männer, die für den Tod von Hunderttausenden Juden verantwortlich waren.

Vor 80 Jahren endete der verbrecherische Krieg des NS-Regimes am 7. Mai 1945 mit der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation in Reims, Frankreich. Der 8. Mai 1945 markiert als „Tag der Befreiung“ offiziell das Kriegsende.

Der Zweite Weltkrieg war einer der verheerendsten Konflikte der Menschheitsgeschichte und forderte insgesamt zwischen 70 und 85 Millionen Menschenleben. Sechs Millionen Juden wurden durch das nationalsozialistische Regime systematisch verfolgt und in Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet. Auch Sinti und Roma, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen und politische Gegner wurden Opfer des NS-Terrors.

Das 80-jährige Jubiläum des Kriegsendes ist nicht nur ein historisches Datum. 80 Jahre Kriegsende bedeuten den Sieg der Alliierten über eine totalitäre Diktatur.

Wir haben den Auftrag, aus der Vergangenheit Konsequenzen für die Gegenwart zu ziehen. Ich frage mich: Was bedeutet dieses Gedenken im Jahr 2025, in dem Judenhass geradezu explodiert und die Welt sich scheinbar wieder in Richtung autoritärer Systeme bewegt?

Das Kriegsende 1945 war ein militärischer Sieg, aber war es auch ein moralischer Neubeginn? Die Herrschaft des NS-Staates hatte die demokratischen Strukturen vollständig zerstört, Meinungs- und Religionsfreiheit abgeschafft und die Menschenrechte systematisch verletzt. Mit der Besatzung durch die Alliierten begann ein tiefgreifender Wandel. Die Unterstützung der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg hat wesentlich zur Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland als stabiler Demokratie beigetragen. Ohne diese Hilfe wäre der Weg zu Freiheit und Wohlstand kaum möglich gewesen.

Der 80. Jahrestag ist eine Mahnung, dass unsere demokratischen Werte – wie Menschenwürde, Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit – nicht selbstverständlich sind, sondern immer wieder neu entdeckt, aktiv gelebt und entschlossen verteidigt werden müssen.

Deutschland nach dem Krieg 1945: Der Krieg ist verloren und Deutschland am Ende. Die Kapitulation war für die meisten Deutschen ein „Zusammenbruch“. Die Städte, Straßen und Brücken waren zerbombt, Millionen Menschen waren auf der Flucht oder vertrieben. Die Menschen lebten in Notunterkünften, Familien waren auseinandergerissen – es gab nichts mehr, woran man Halt finden und sich aufrichten konnte. Man nennt es die „Stunde null“. Die Schuldgeschichte der Familie, ob aktiv oder passiv, verbarg sich von nun an hinter einer Decke des Schweigens. Das war die Zeit, in der aus dem Volk der Täter ein Volk der Opfer wurde.

Von 1945 bis 1948 wollten die Westlichen Alliierten die Wurzeln des Nationalsozialismus vollständig beseitigen und begannen mit der Entnazifizierung. Doch bald sahen sie sich einem Dickicht aus Lügen und verdrehten Zusammenhängen gegenüber. Es war die Zeit, in der man sich Persilscheine ausstellte, das waren Entlastungsbriefe, in denen Nazis „reingewaschen“ und zu anständigen Menschen erklärt wurden.

Am 8. Mai 1948, genau drei Jahre nach Kriegsende, wurde die Entnazifizierung offiziell beendet. Die Nazis hatten sich praktisch in Luft aufgelöst! Nur wenige wurden zur Rechenschaft gezogen. Vielen gelang es, in verantwortlichen Positionen erneut Fuß zu fassen. Bis 1955 hielten bei Umfragen in Nachkriegsdeutschland bis zu 55 % der Befragten den Nationalsozialismus weiterhin für eine gute Sache. Die Politikwissenschafter Peter Reichert meint, man kann „mit Recht sagen, dass es einen geistigen und moralischen Neuanfang nach dem Krieg in Deutschland nicht gegeben hat.“

Die „Stunde Null“ war für den größten Teil der Bevölkerung ein großer Schlussstrich unter eine Vergangenheit, über die niemand mehr etwas wissen wollte und an der anscheinend niemand beteiligt gewesen war. Es legte sich über unsere Familien in Deutschland und die nachfolgenden Generationen ein nahezu undurchdringlicher Nebel. Ich nenne ihn die „Decke des Schweigens“.

Gedenken darf nicht nur rückwärtsgewandt sein. Es muss eine Brücke in die Gegenwart und Zukunft schlagen. Der 80igste Jahrestag der Kapitulation ist mehr als Erinnerung. Er ist Mahnung. Er ist Verpflichtung. Und er muss die Probleme der Gegenwart beim Namen nennen – auch, wenn es schmerzhaft ist.

Der 80. Jahrestag der Kapitulation fällt zusammen mit einer offenen Wunde: Dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. An diesem Tag überfiel die Terrororganisation Hamas Israel mit einer Brutalität, die an das dunkelste Kapitel jüdischer Geschichte erinnert. Menschen wurden grausam ermordet, Geiseln verschleppt, sexuell missbraucht und gefoltert. Seitdem terrorisiert die Hamas Israel und ihre eigene Bevölkerung in Gaza mit einem zerstörerischen Krieg. Wir hören nicht auf, an die Geiseln in Gaza zu erinnern, die seit über 600 Tagen unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten werden – wie Guy Gilboa-Dalal – und fordern gemeinsam: „Lasst sie frei!“

Der 7. Oktober war ein Einschnitt. Er zeigt, dass Antisemitismus nicht Geschichte ist. Er ist Gegenwart. Und was folgte, war ein weiteres Erschrecken: Nicht nur über die Gewalt, sondern auch über das Schweigen. Das Schweigen in Klassenzimmern, in Universitäten, in zahlreichen Medien und Kirchen. Das Zögern, klare Worte zu finden. Die Relativierungen. Das Wegsehen. Wie kann es sein, dass nach einem solchen Massaker an Jüdinnen und Juden die Empathie so schnell versiegt?

Wenn jüdisches Leid mit Schweigen beantwortet wird, ist das kein Zufall – es ist ein Versagen. Dieses Schweigen ist kein Nebengeräusch. Es ist ein Alarmsignal. Denn Antisemitismus lebt nicht nur von Parolen. Er lebt auch vom Wegsehen, Verharmlosen – und vom Schweigen der Mehrheit.

Was aber, wenn der Antisemitismus unsere Köpfe nie verlassen hat? Gleichgültigkeit und Schweigen sind seit mehr als 2.000 Jahren noch immer deutliche Kennzeichen von Antisemitismus und Judenhass. Die Realität zeigt, dass der Antisemitismus nach beinahe 80 Jahren mehr in uns feststeckt als je zuvor.

Ich frage mich: Was da bei uns schiefgelaufen ist? Haben alle Instrumente der Aufarbeitung versagt? Was ist mit unseren Gedenkstätten, Museen und pädagogischen Hilfestellungen? Was ist mit der Literatur, den zahllosen Dokumentationen und Filmen? Was ist mit unseren Gedenktagen und all unseren Versuchen, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten?

Wie kann es sein, dass trotz einer beispiellosen Aufarbeitung in Politik und Gesellschaft inzwischen über 27% aller Deutschen antisemitisch Einstellungen haben? Sind hinter der Decke des Schweigens Antisemitismus und Judenhass bis in die heutige Generation weitergereicht worden? Wie viel Antisemitismus und Judenhass müssen in einem Menschen schlummern, um ein Massaker an 1.400 Juden zu relativieren und empathielos darüber hinwegzusehen?

Der Sozialwissenschaftler und Antisemitismusbeauftragte Samuel Salzborn wäre nicht überrascht. Er wies in seinem Buch „Kollektive Unschuld“ schon vor Jahren darauf hin, dass Antisemitismus durch die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern wieder zur blutigen Realität werden würde. Heute erleben wir die dramatischen Folgen einer Erinnerungsverweigerung, die die Täterschaft der eigenen Eltern und Großeltern verschwinden ließ. Die scheinbare Erfolgsgeschichte der deutschen Aufarbeitung hat unsere Familien tatsächlich nie erreicht.

Wie sehr Erinnerung von Familiengeschichte geprägt ist, zeigt eine Studie des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung: Fast 70 % der Befragten verneinten, überhaupt NS-Täter in der eigenen Familie zu haben. Dagegen sind knapp 30 % der Überzeugung, dass ihre Vorfahren potenziellen Opfern geholfen hätten – tatsächlich haben das nur 0,3 % der Deutschen getan.

Antisemitismus gedeiht in unserer Unwilligkeit, die Wahrheit der eigenen Familie anzuschauen und aufzuarbeiten. Wer Judenhass und Antisemitismus etwas wirklich Wirksames entgegensetzen will, fängt bei der Schuldgeschichte in seiner eigenen Familie an.

Die Aufarbeitung von Schuld, sei sie persönlich oder historisch, ist unverzichtbar. Doch ohne Vergebung droht die Erinnerung zu einer Waffe zu werden.

Wenn wir bei der Marsch des Lebens Bewegung Menschen helfen, ihre Familiengeschichte anzuschauen, ermutigen wir sie, daraus zu lernen und Worte zu finden, die ihre Vorfahren nicht gefunden haben. Sie tun dies oft mit der Bitte um Vergebung. Ihre Bitte um Vergebung ist kein leichtfertiges Wegwischen oder Relativieren, sondern der Ausdruck ihrer inneren Betroffenheit. Sie verstehen, dass die Erinnerungsverweigerung ihrer Familie nur durch einen persönlichen Akt der Demut durchbrochen werden kann.

Eine Gesellschaft, die auf jüdisch-christlichen Werten basiert, zeichnet sich nicht durch Fehlerlosigkeit aus, sondern durch die Kraft, eigenes Versagen einzugestehen, Wege der Versöhnung zu beschreiten und dadurch die Möglichkeit eines Neuanfangs zu schaffen.

  • Ich erinnere an das historische Treffen zwischen dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer und dem israelischen Ministerpräsidenten David Ben-Gurion am 14. März 1960 in New York. Dieses Treffen öffnete die Tür für eine neue Ära der Zusammenarbeit und Versöhnung zwischen Deutschland und Israel.
  • Ich habe den Kniefall Willy Brandts in Warschau vor Augen. Am 7. Dezember 1970 kniete der damalige Bundeskanzler unerwartet vor dem Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos nieder. Diese symbolische Bitte um Vergebung für die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands markierte einen entscheidenden Wendepunkt in der polnisch-deutschen Versöhnungsgeschichte.
  • Und ich denke an die Erfolgsgeschichte der französisch-deutschen Versöhnung.

Die jüdische Publizistin Hannah Arendt berichtete über den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem und schreibt in ihrem Werk Vita activa oder Vom tätigen Leben, dass Vergebung die einzige Handlung ist, die das Unvorhersehbare möglich macht – nämlich einen Neubeginn.

Der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer wurde vor 80 Jahren – am 9. April 1945 – im KZ-Flossenbürg hingerichtet. Er sagte, dass Vergebung das Einzige ist, das den Teufelskreis von Schuld und Vergeltung durchbrechen kann.

Die Vergebung braucht die Wahrheit – aber die Wahrheit braucht auch Vergebung. Wer die Vergebung verlernt hat, wird früher oder später auch die Demokratie verlernen – denn ohne die Bitte um Vergebung bleibt nur Härte, Spaltung und Selbstgerechtigkeit.

Vielen ist nicht bewusst, dass der Wunsch, einen Schlussstrich zu ziehen, bereits in den Trümmern Deutschlands 1945 begann. Die Deutschen wollten damals lieber vergessen und nach vorne schauen. Mit dem Ende der Nürnberger Prozesse (1945/46) sollte auch mit der NS-Zeit bitte Schluss sein. Erst Ende der 70er Jahre, als die Serie „Holocaust“ im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde, sprach man öffentlich über den millionenfachen Mord an den Juden. Es war der Beginn einer notwendigen öffentlichen Aufarbeitung der Shoah, die im Ausland für lange Zeit als vorbildlich galt.

80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wollen laut jüngsten Umfragen 55 % der Deutschen wieder einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen. 28 % der Befragten meinten, dass die NS-Zeit auch ihre guten Seiten gehabt habe.

Wer sich gegen Antisemitismus und Judenhass stellt, trägt eine Verantwortung über Generationen hinweg. Auch 80 Jahre nach Kriegsende darf es keinen Schlussstrich geben. Die Geschichte mahnt und sagt: Vergessen ist keine Option!

Der Holocaust begann nicht mit dem Niederbrennen von Synagogen. Er begann mit Worten. Mit Spott. Mit Ausgrenzung. Mit Gleichgültigkeit. Und er wurde möglich, weil zu viele geschwiegen haben.

Der 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs ist nicht nur ein Blick in die Vergangenheit. Er ist ein Spiegel für unsere Gegenwart. Und er ist ein Ruf an uns alle: Hinschauen. Hinhören. Widersprechen. Aufstehen.

Die gemeinsame Botschaft der Marsch des Lebens Bewegung lautet in diesem Jahr: ‚Wir schweigen nicht!‘ – ein Ruf, der in diesem Jahr bereits bei 50 Märschen weltweit erklungen ist. Für 2025 sind über 100 Märsche in 22 Ländern geplant.

Und deshalb rufen wir laut: „Wir schweigen nicht!“ Aus diesem Grund ist das Ausrufezeichen im Motto „Wir schweigen nicht!“ mehr als nur ein Satzzeichen – es ist ein bewusst gesetztes Symbol.

Das Ausrufezeichen ist ein Ausdruck unserer entschlossenen Haltung! „Wir schweigen nicht!“ ist keine vorsichtige diplomatische Floskel, sondern steht für eine unmissverständliche Botschaft und eine klare Position.

Das Ausrufezeichen durchbricht jede Sprachlosigkeit und sagt: „Wir durchbrechen das Schweigen gegenüber Antisemitismus und Judenhass aktiv – laut, hörbar und sichtbar.“

Das Ausrufezeichen steht für Solidarität! Wir zeigen damit, dass wir an der Seite der jüdischen Gemeinden und Israels stehen – nicht nur mit wohlklingenden Worten, sondern mit einer klaren, unmissverständlichen Stimme.

Das Ausrufezeichen widerspricht jeder Normalisierung! Wir sagen damit, dass wir jedem Versuch, Antisemitismus und Judenhass zu relativieren und in die Gesellschaft zu integrieren, die rote Karte zeigen!

Das Ausrufezeichen ist ein Weckruf! Es ist ein Appell an alle, die noch zögern – ein Signal, das sagt: „Es ist jetzt die Zeit, sich zu positionieren. Nicht später. Nicht leise. Sondern in aller Deutlichkeit!“

Ich möchte meinen Vortrag mit einem bekannten Zitat des Holocaustüberlebenden und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel beenden, dem ich in Boston kurz vor seinem Tod die Marsch des Lebens Bewegung vorstellen durfte: „Wir müssen uns immer für eine Seite entscheiden. Neutralität hilft dem Unterdrücker und niemals dem Opfer. Schweigen ermutigt den Folterer und niemals den Gefolterten“.

80 Jahre nach Kriegsende darf Erinnerung nicht zur bloßen Routine werden – sie muss uns antreiben, Verantwortung zu übernehmen. Sie fordert uns auf, die Wahrheit unserer Familiengeschichte anzuschauen und weltweit Menschen zu mobilisieren, um Jahr für Jahr ein kraftvolles Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen und die Freundschaft zu Israel zu stärken.

 

Hier kann man die Rede von Jobst Bittner als Video in voller Länge nachschauen:

Jetzt Newsletter abonnieren

Jetzt Newsletter abonnieren

Sie möchten keine Neuigkeit mehr verpassen? Jetzt Felder ausfüllen und eintragen!

Danke! Ihr Eintragung war erfolgreich.